Goslarer Erklärung
Am 17. September 2020 hat die Mitgliederversammlung des VDS einstimmig folgende Erklärung verabschiedet.
10 Jahre Ambulanter Justizsozialdienst in Niedersachsen – ein Grund zum Feiern!?
Goslarer Erklärung des VDS 2020
Mehr als 10 Jahre AJSD sind auch für uns ein Grund, Resümee über die letzten nun schon 11 Jahre zu ziehen und rückblickend und vorausschauend die Entwicklung in unserem Dienst zu betrachten.
Der Auftrag des AJSD
Seit 1953 gibt es das Institut der Bewährungshilfe. Der gesetzliche Auftrag ist seither in unveränderter Form im Strafgesetzbuch normiert:
„Die Bewährungshelferin oder der Bewährungshelfer steht der verurteilten Person helfend und betreuend zur Seite. Sie oder er überwacht im Einvernehmen mit dem Gericht die Erfüllung der Auflagen und Weisungen sowie der Anerbieten und Zusagen und berichtet über die Lebensführung der verurteilten Person …“ (§ 56d Abs. 3 StGB).
Der politisch zu kurz gesprungene, bisweilen auch populistische Ruf nach Strafverschärfungen, die übermäßige Betonung des Risikos sowie die Zunahme der Kontrolle und des Misstrauens gegen die Klient*innen machen es aber immer schwieriger, diesem gesetzlichen Auftrag angemessen gerecht zu werden.
Die risikoorientierte Standardisierung der Bewährungshilfe
Seit Einführung der risikoorientierten Bewährungshilfe gemäß der Empfehlungen des Eichstätter Sozialmanagement-Experten Prof. Dr. Klug wird das bis dahin sehr produktive Engagement der Kolleg*innen, sich in ihrer Arbeit für die Belange der betreuten Proband*innen einzusetzen, deutlich erschwert. Die Vorgaben in Form sogenannter „Qualitätsstandards“- die später zu „Mindeststandards“ gemacht wurden - die seither unsere Arbeit regeln, haben dazu geführt, dass die eigentliche, professionelle Sozialarbeit vor allem abseits dieser Vorgaben stattfindet.
Statt um das weitgehend folgenlose Abarbeiten forensischer Methoden und aufwändiger Dokumentationspflichten geht es hier vor allem darum, möglichst lebensweltnah in eine tragfähige Vertrauens- und Arbeitsbeziehung mit den Proband*innen zu finden und diese zu pflegen, um nachhaltige Veränderungen bei ihnen zu erreichen. Für diese Arbeit fehlen aber aufgrund der gesetzten Rahmenbedingungen die zeitlichen Ressourcen und sie kann deshalb den Ansprüchen an moderne, professionelle und wirksame Sozialarbeit kaum mehr gerecht werden.
Vor allem die Vorgaben zur Dokumentation und zu Berichtspflichten haben zu einer unverhältnismäßigen Mehrbelastung und damit zu einer Umverteilung der Arbeit geführt. Die Folge war eine starke Verminderung der persönlichen Kontakte zu Klient*innen, da massiv mehr Zeit für das Schreiben von Berichten, Vermerken, Risikoeinschätzungen, Fallanalysen und Interventionsplanungen benötigt wurde. Eine Begleitung zu Ämtern, Behörden und Beratungsstellen, Begleitung bei Arbeits- oder Wohnungssuche, umfangreiche Schuldenregulierungen, Anbahnung sozialer Kontakte und vieles mehr sind den Justizsozialarbeiter*innen aus Zeitgründen meist nicht mehr möglich.
Ein Großteil der Arbeit der Sozialarbeiter*innen im AJSD erstreckt sich heute vielmehr auf das Bemühen, den (Mindest-)Standards und den umfangreichen Geschäftsprüfungskriterien gerecht zu werden, mit denen die Arbeit der Kolleg*innen steuerbar werden soll, was aufgrund der Überkomplexität menschlicher Handlungsentscheidungen jedoch weder theoretisch noch praktisch gelingen kann. Dies und vor allem auch die politisch gewollte und äußerst oberflächlich praktizierte Risikoorientierung verstellen die Möglichkeiten, Menschen wirksam zu nachhaltigen Verhaltensänderungen zu verhelfen.
Diese Entwicklung ist mit Blick auf eine wirksame und damit auch kriminalpräventive Betreuungsarbeit nicht länger hinnehmbar.
Entwicklung der Gerichtshilfe
Auch die Gerichtshilfe als Teil des AJSD hat an Bedeutung und Wirksamkeit verloren. Durch die Integration in die generalisierte „Allround-Tätigkeit“ der Justizsozialarbeiter*innen gibt es die engen Kontakte der Gerichtshilfe zu Staatsanwaltschaften und Gerichten nicht mehr. Außerdem ist dadurch wertvolles Spezialist*innennwissen versickert. Das Resultat ist heute an deutlich sinkenden Auftragszahlen und zunehmender Unkenntnis über das Tätigkeitsfeld der Gerichtshilfe bei Staatsanwaltschaften und Gerichten sichtbar. Der letzte erhaltene, spezialisierte Bereich der Gerichtshilfe ist der Täter-Opfer-Ausgleich. Durch den verloren gegangenen Bezug zu den Staatsanwaltschaften sind aber auch hier sinkende Fallzahlen zu verzeichnen.
Arbeitsplätze der Verwaltungsmitarbeiter*innen
Trotz vielfacher Analysen der Arbeitsplätze der Justizangestellten und Bemühungen um eine Aufwertung sind die Mitarbeiter*innen weiterhin in ihrer Entlohnung nicht den Mitarbeiter*innen in den Geschäftsstellen der Gerichte gleichgestellt. Und das, obwohl die Tätigkeiten sehr wohl vergleichbar sind und es sich teilweise sogar um höherwertige Aufgaben handelt. Die Justizangestellten haben im AJSD ein vielfältiges Aufgabengebiet. So werden Akten geführt, Fristen eingetragen, es finden Kontakte mit Klient*innen statt, es werden Aufgaben der Gerichtshilfe wahrgenommen, die Bezirksleitungen in ihrer Tätigkeit unterstützt etc.
Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung
Als wichtige Instrumente der Qualitätssicherung sind im AJSD Qualitätszirkel und Qualitätsbeauftragte installiert. Wir stellen fest, dass diese Instrumente durch die Leitung nie in ihrer vorgesehenen Rolle genutzt wurden. Weder bei der Entwicklung der Qualitätsstandards der 4. und 5. Auflage, noch bei der Entwicklung der Fachanwendung SoDA oder der Erstellung der aktuellen Formulare „Interventionsplanung“ und „Systematische Fallanalyse“ wurden Qualitätsbeauftragte und Qualitätszirkel in einem Umfang beteiligt, wie es deren Bezeichnung erwarten ließe. Vielmehr hat die Entwicklung der Vorgaben für die Arbeit der Justizsozialarbeiter*innen durch leitende Beschäftigte stattgefunden, die teilweise – manche seit vielen Jahren – nicht mehr in der praktischen Betreuung der Klient*innen des AJSD tätig sind. So konnten wichtige Erfahrungen aus dem gegenwärtigen Arbeitsalltag nicht hinreichend in den fachlichen Weiterentwicklungsprozess eingehen, was die fachliche Akzeptanz der Neuerungen notwendig minimiert. Die Hierarchisierung von Entwicklungs- und Entscheidungsprozessen hat sich im Kontext Sozialarbeit damit einmal mehr als kontraproduktiv erwiesen; Kolleg*innen fühlen sich in ihrer eigenen professionellen Expertise nicht mehr wertgeschätzt und mitgenommen, sondern nur noch als rein Ausführende fremder Vorgaben verobjektiviert. Dies führt im besten Fall zu Frustration und Unzufriedenheit, nicht selten aber wohl auch zu Reaktanz und gesundheitlichen Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit.
Umfrage unter den Mitarbeiter*innen
Der VDS hat im Juli 2020 eine Umfrage unter Mitarbeiter*innen des AJSD mit 123 Teilnehmenden veranstaltet, die sich im Wesentlichen an Justizsozialarbeiter*innen gerichtet hat. (Download) Die Ergebnisse zeichnen ein deutliches Bild über den derzeitigen Zustand der fachlichen Arbeit und den Umgang mit Mitarbeiter*innen: 50% würden deutlich anders arbeiten als in den Qualitätsstandards vorgegeben, 78% würden die vorgegebenen Formulare zur Unterstützung der fachlichen Arbeit freiwillig nicht benutzen und nur 24% sind der Meinung, das Konzept zur Behandlung von Straftätern (RNR) in ihrer Arbeit umsetzen zu können. Im Umgang mit Mitarbeiter*innen sprechen die Zahlen ebenfalls eine eindeutige Sprache: 33% haben Angst vor ihrer nächsten Geschäftsprüfung, 26 % rechnen im Anschluss an die Geschäftsprüfung mit einer Nachprüfung
Fazit
Der VDS stellt fest, dass das ursprüngliche Ziel der mit Einführung des AJSD verbindlich gewordenen Qualitätsstandards, die Arbeit sowohl für Klient*innen als auch für Justizsozialarbeiter*innen zu verbessern, nicht erreicht wurde.
Sozialarbeiter*innen – und dies sind Justizsozialarbeiter*innen – beraten und betreuen Menschen in besonderen Lebenslagen (im ASJD: Straffällige), die sie nicht allein bewältigen können. Gemeinsam mit diesen erarbeiten sie alternative Lösungen und unterstützen diese Menschen, Problemstellungen im sozialen Bereich in einer für alle Beteiligten akzeptablen Weise zu bewältigen. Sie stehen den Menschen stärkend zur Seite, leiten entwicklungsförderliche Maßnahmen in die Wege und bieten auf diese Weise eine kompetente Hilfestellung in herausfordernden Situationen. So unterstützt kann und wird in vielen Fällen strafrechtliche Bewährung gelingen.
Selbstverständlich gehörte und gehört die Dokumentation der Arbeit ebenfalls zu den Aufgaben jeder Sozialarbeiter*in, aber diese ist im AJSD – wie in vielen anderen Bereichen auch – auf ein nicht mehr vertretbares Maß angewachsen und lenkt vom eigentlichen Auftrag der Sozialen Arbeit ab. Entsprechend hat sich die Arbeit der Justizsozialarbeiter*innen erheblich in Richtung Verwaltung und Dokumentation verschoben.
Mit den dezidierten Vorgaben der Qualitätsstandards wurde zudem der Versuch unternommen, die Verantwortung für das Verhalten der Klient*innen auf die Justizsozialarbeiter*innen zu verlagern. Eine hierfür notwendige, allumfassende Kontrolle der Klient*innen kann aber weder möglich noch ernsthaft gewollt sein. Deshalb kann der richtige Ansatz nur sein, zu den Klient*innen eine Beziehung und eine vertrauensvolle Zusammenarbeit aufzubauen, um erneute Straffälligkeit zu vermeiden. Hier kann auch Kontrolle eine hilfreiche Möglichkeit im Rahmen der Zusammenarbeit sein, sollte nach allem Dafürhalten der Forschung aber keinesfalls priorisiertes Ziel der Justizsozialarbeit sein.
Notwendiger Reformbedarf
- Wir fordern, die Inhalte der derzeit gültigen Qualitätsstandards der 5. Auflage insgesamt zu überprüfen und dem heutigen Stand der Wissenschaft – unter Zuhilfenahme wissenschaftlicher Beratung – in Bezug auf fachliche Soziale Arbeit mit Klient*innen der ambulanten Strafrechtspflege anzupassen und weiterzuentwickeln. Hierzu müssen Qualitätszirkel und Qualitätsbeauftragte in angemessenem Umfang unter Ausstattung mit ausreichenden Ressourcen beteiligt werden.
Außerdem müssen die Vorgaben der Qualitätsstandards so weit reduziert werden, dass sinnvolle und professionelle Sozialarbeit mit den Klient*innen wieder möglich wird. Die Dokumentationspflichten im AJSD müssen überprüft und deutlich verschlankt werden, da sie die Arbeit mit Klient*innen massiv einschränken. - Die Justizsozialarbeiter*innen müssen in vielfältigen, aktuellen und als wirksam anerkannten Methoden umfassend geschult werden, vor allem wenn deren Anwendung erwartet wird. Diese sind in der Regel nur kursorischer Bestandteil des sehr viel breiter angelegten Studiums von Sozialarbeiter*innen.
- Um wieder eine größere Nähe der fachlichen Leitung zur praktischen Arbeit zu erreichen, sollten alle Personen in Leitungsfunktion, insbesondere Bezirksleitungen – wie dies in der Justiz sonst gemeinhin üblich ist – weiterhin einen Teil ihrer Arbeitszeit als Justizsozialarbeiter*innen tätig sein.
- Wir fordern für die Justizangestellten die Einführung von Geschäftsstellen im AJSD – ggf. im Zuge einer Umstrukturierung der Arbeit –, um eine der Tätigkeit angemessene, höherwertige Entlohnung der Mitarbeiterinnen zu ermöglichen.
- Im Arbeitsfeld der Gerichtshilfe müssen flexible und den örtlichen Gegebenheiten angepasste Strukturen geschaffen werden, um den Anforderungen der Auftraggeber besser gerecht zu werden und so zu einer engeren Zusammenarbeit mit Staatsanwaltschaften und Gerichten zu kommen. Die Spezialisierung auf ein Arbeitsfeld muss wieder möglich sein, wo dies sinnvoll und gewünscht ist. Außerdem sollten die Ansprechpartner*innen für Gerichtshilfe gestärkt und deren Anzahl erweitert werden, um die Kontakte zu den Auftraggebern wieder deutlich intensiver gestalten zu können, beispielsweise in gemeinsamen Dienstbesprechungen mit den Auftraggebern.
Der VDS, 17. September 2020