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29. November 2016

Stellungnahme des VDS

Stellungnahme an die Leitende Abteilung zum Entwurf der 5. Auflage der Qualitätsstandards im AJSD vom 28.11.2016

Als Fachverband nehmen wir gerne Stellung zum aktuellen Entwurf der 5. Auflage der Qualitätsstandards und begrüßen die Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit den neuen Regelungen. Uns ist nicht an einer neuerlichen Grundsatzdiskussion gelegen, sondern an praxisorientierten Qualitätsstandards im anspruchsvollen justiziellen Arbeitsfeld unter Berücksichtigung sozialarbeiterischer Grundsätze und einer hohen Eigenverant-wortung der Kolleginnen und Kollegen.

Positiv in den Standards der Bewährungshilfe und Führungsaufsicht sind die Änderungen bzgl. des Wegfalls der Betreuungsgruppen und der Dittmannliste sowie die Entkopplung von der Fachanwendung SoDA zu werten. Ebenso begrüßen wir die Stärkung der professionellen Identität von Sozialarbeit und das höhere Maß an Flexibilität in der Betreuungsarbeit. Auch die Aufnahme des Begriffs „Bedürfnis" als Erklärungsansatz für die Begehung von Straftaten erscheint uns sinnvoll.

Als im Grundsatz höchst problematisch stellt sich der Entwicklungsprozess der 5. Auflage der Qualitätsstandards dar. Es hat sich bewahrheitet, dass aus der Bewertung einzelner Punkte einer schlechten Version sowie dem Zusammenschreiben der Rückmeldungen und der Diskussionsergebnisse der Bewertungskommission durch die fachliche Leitung nicht automatisch ein ausgereiftes neues Gesamtkonzept entstanden ist.

Es fehlt die dringend erforderliche fachliche Diskussion im Entwicklungsprozess der neuen Qualitätsstandards, zumal im Entwurf der 5. Auflage mit der Verpflichtung zur sequentiellen Tathergangsbetrachtung, dem Interventionsplan und neuen Risikofaktoren Elemente eingeführt wurden, die nicht Teil des Rückmeldesystem waren.

Auch ist der Zeitraum von zwei Monaten bis zum 30.11.16 völlig unzureichend und wird in der Kollegenschaft als Methode gesehen, künstlich Zeitdruck aufzubauen, was abermals eine nachhaltige Auseinandersetzung mit den Standards verhindert. Darüber hinaus birgt die Abfrage über die Bezirksleitungen die Gefahr, dass entscheidende Punkte mit Blick auf das vermeintlich Machbare oder Opportune nicht oder nicht angemessen aufgenommen werden.

Ebenfalls kritisieren wir scharf, dass extra nicht vorgesehen ist, die eigenen Fachgremien einschließlich der Qualitätsbeauftragten mit dem Entwurf zu befassen. Der ausdrückliche Ausschluss der eigenen Qualitätssicherungssysteme des AJSD lässt den Eindruck entstehen, dass es dem Verfahren an Ernsthaftigkeit fehlt.

Darüber hinaus widersprechen wir deutlich der Aussage in der Einführung: „Die fachlichen Standards der 5. Auflage sind das Ergebnis einer Qualitätsentwicklung, die seit dem Jahre 2000 unter Beteiligung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der ambulanten sozialen Dienste der Justiz in Niedersachsen kontinuierlich Fortsetzung gefunden hat."

Vielmehr wurde die unter breiter Beteiligung der Kollegenschaft entwickelte 3. Auflage aus dem Jahr 2003 gegen das Votum und unter Scheinbeteiligung der Mitarbeiterschaft vom MJ durch ein völlig untaugliches, neues Konzept ersetzt. Diese 4. Auflage wurde entgegen Verbesserungsvorschlägen und massiver Kritik seit 2011 umgesetzt und gerade nicht in einem fortlaufenden Prozess weiter entwickelt. Die 2011 veröffentlichte Ausgabe der Standards ist bis heute unverändert gültig. Die schließlich begonnenen Elemente Rückmeldesystem und Bewertungskommission haben sich dann an einzelnen Punkten des Alten „abgearbeitet", die Entwicklung des Neuen ist aber wiederum ohne Beteiligung der Kollegenschaft in der Leitung erfolgt.

Im Folgenden weisen wir auf die wesentlichen Punkte hin, die korrigiert werden müssen. Darüber hinaus schließen wir uns den weitergehenden Ausführungen der Personalvertretung des AJSD an.

  • Die Gewichtung von Hilfe und Kontrolle ist unausgewogen. Der Teil Hilfe/Betreuung nimmt zu wenig Raum ein und die Elemente wertschätzender Sozialarbeit müssen ausgebaut werden. Der Bereich Kontrolle/Risiko hat auch in dieser Version einen viel zu großen Stellenwert und muss eingekürzt werden. Ein Hochstilisieren des Risikos bei unseren Probandinnen und Probanden ist fachlich falsch und hat negative Folgen, da dies die Haltung zu den Menschen, die Straftaten begangen haben, verändert, den Zugang erschwert und die Ressourcen aus den Augen verliert.
  • Wir empfehlen, die Bewährungsbeziehung mit der positiven Sozialprognose von Gericht oder StVK zu beginnen, erst die positiven Ansätze herauszuarbeiten und dann auf kriminogene Faktoren einzugehen. Nur auf der Grundlage einer tragfähigen Arbeitsbeziehung, für die eine positive Herangehensweise unerlässlich ist, und einer möglichst vertrauensvollen Zusammenarbeit, lässt sich überhaupt Veränderungsmotivation erreichen.
  • Die Fokussierung auf Risikofaktoren, die sich in vielen Textpassagen findet, suggeriert, straffällig gewordene Menschen seien allein auf Grund ihrer schlechten Eigenschaften, ihrer Mängel, ihrer nicht vorhandenen Kompetenzen zu Tätern geworden. Dieser Ansatz zur Erklärung straffälligen Verhaltens blendet aus, dass Menschen immer in sozialen Kontexten leben, die Einfluss auf sie, ihr Erleben, ihre Wahrnehmung, ihre Interpretation der Erlebnisse und Ereignisse und somit letztlich auf ihre Haltung zu verschiedenen Fragen haben. Es kann also nicht ausreichend sein, allein an den individuellen kriminogenen Faktoren des straffällig gewordenen Menschen zu arbeiten, wenn feststeht, dass der o.g. Kontext weiterhin besteht und wirksam ist.
  • Die Liste der allgemein gültigen kriminogenen Faktoren ist erneut aus dem therapeutisch-forensischen Bereich entnommen worden. Ihre Relevanz für die praktische ambulante Arbeit ist sehr begrenzt und nicht gesichert. Sie sollte aus den Standards gestrichen werden, zumal Items zu Lebensumständen wie etwa Familie, Arbeit, Wohnen und Einkommen fehlen. UE. kann sie im Anhang neben weiteren Hilfsmitteln Verwendung finden.
  • Die Einschätzung des Rückfallrisikos bzw. der zukünftigen Straffreiheit ist nicht durchführbar, so dass die Vorgabe zu streichen ist. Eine Prognose kann nicht seriös getroffen werden und wäre reine Spekulation. Es ist jeweils nur möglich, die positiven und negativen Faktoren zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu beschreiben.
  • Eine Reduzierung auf die Methode der „sequentiellen Tathergangsbetrachtung" und ihre geforderte verbindliche Anwendung bei jeder/m Probandin/en lehnen wir ab. Es muss im Ermessen der/s Bewährungshelferin/s liegen, in welcher Form die Auseinandersetzung mit der Tat Teil des Betreuungsprozesses ist. Auch darüber hinausgehend ist grundsätzlich auf sozialarbeiterische Arbeitsweisen und Methodenvielfalt zu achten.
  • Die Bezeichnungen Bewährungshelfer/in, Gerichtshelfer/in müssen wieder in die Qualitätsstandards aufgenommen werden. Der Begriff der/s Justizsozialarbeiterin/s ist zu streichen. Wir unterstützen nachdrücklich diese Forderung der Bewertungskommission. Wir begrüßen ausdrücklich die Wiederaufnahme des Begriffs Proband/in in die Qualitätsstandards.
  • Die Eigen- und Fallverantwortung der Kolleginnen und Kollegen muss wieder deutlich herausgestellt werden. Für die anspruchsvollen Aufgaben der Betreuung von häufig schwieriger Klientel mit multiplen Problemlagen ist eigenverantwortliche, selbstbewusste und kreative Sozialarbeit unerlässlich.
  • Formulierungen wie „wenn der Auftrag ernst genommen wird" oder „dabei meint die Kontaktfrequenz persönliche Kontakte" müssen gestrichen werden. Sie suggerieren, dass den engagierten Kolleginnen und Kollegen einfachste Handlungsanweisungen vorgeschrieben werden müssen. Dies widerspricht der hohen sozialarbeiterischen Fachkompetenz, Motivation und Einsatzbereitschaft der Kollegenschaft. Die Qualitätsstandards sollten vielmehr Eigenschaften wie Kritikfähigkeit, Eigeninitiative und Eigenverantwortung fordern und stärken.
  • Dokumentationsanforderungen im Entwurf müssen reduziert werden. Sie sind aus Effizienz- und Datensparsamkeitsgründen auf das Notwendigste zu reduzieren. Auch Doppeldokumentationen müssen vermieden werden. So kann der Punkt Datenerhebung entfallen. Die Sozialanamnese umfasst alle erforderlichen Informationen zu Familie, Herkunft, finanzieller, schulischer, beruflicher und gesundheitlicher Situation, Ressourcen, Delinquenzentwicklung etc. sowie dem vorhandenen Unterstützungssystem einschließlich Betreuungszielen. Die Kriterienliste auf Seite 28 kann im Anhang zur Verfügung gestellt werden.
  • Der weitere Betreuungsverlauf und Arbeitsabsprachen bilden sich nachvollziehbar in der Verlaufsdokumentation ab. Eine gesonderte und parallel zu führende Interventionsplanung sollte nicht eingeführt werden, da es sich um ähnlich überflüssige Doppeldokumentationen wie in den bislang geführten Hilfe- und Kontrollprozessen handelt.
  • Verbindliche Kontaktfrequenzen sind zu streichen, da sie keinen Nutzen für die praktische Arbeit bringen und ihre Veränderungen aufgrund aktueller Erfordernisse unnötigen Dokumentationsaufwand bedeuten. Aufgrund der Dynamik im Betreuungsprozess ist es sinnvoller und praktikabler, Termine jeweils an aktuellen Gegebenheiten sowie an den Auflagen in den Bewährungs- und Führungsaufsichtsbeschlüssen zu orientieren.
  • Feste Regelungen zu Hausbesuchen und im Übergangsmanagement müssen ebenfalls gestrichen werden. Es muss stets im Ermessen der/s fallverantwortlichen Bewährungshelferin/s liegen, wie der Betreuungsprozess gestaltet wird. Z.B. kann ein Hausbesuch aus Sicherheits- oder Effektivitätsaspekten nicht angezeigt sein. Auch ein Besuch in der JVA ist nicht immer erforderlich oder umsetzbar. Vielmehr ist hier verstärkt darauf zu drängen, dass die Probanden Lockerungen zur Entlassungsvorbereitung erhalten.
  • Der 5. Absatz auf Seite 37 muss entfallen, da die Betreuung im Rahmen der Bewährungshilfe vom Gericht grundsätzlich für einen bestimmten Zeitraum vorgegeben wird und in den meisten Fällen auch nach Erfüllung der Auflagen und Weisungen eine weitere Betreuung angezeigt ist. Ein automatischer Zusammenhang zwischen Auflagenerfüllung und Bewährungshilfe ist nicht zu konstruieren.
  • Die Billigung zur Weiterbetreuung über die Bewährungszeit hinaus durch die Bezirksleitungen muss gestrichen werden. Die Betreuung über das zeitlich definierte Bewährungsende hinaus ist in bestimmten Fällen ein normaler Vorgang, betrifft nur wenige Fälle z.B. bei noch nicht abgeschlossenen parallel laufenden Strafverfahren und kann wie bisher eigenverantwortlich von den Kolleginnen und Kollegen entschieden werden.  
  • Die Regelungen zur Jugendbewährungshilfe sind nur unzureichend in den Standards berücksichtigt. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass anspruchsvolle Jugendbewährungshilfe nur mit einem Entlastungsfaktor geleistet werden kann.
  • In den Standards ist darauf zu verweisen, dass die Qualität der Arbeit in Relation zur Belastung steht. Darüber hinaus ist eine Fallobergrenze gleichzeitig bearbeiteter Verfahren in BwH/FA, GH und TOA von 50 anzustreben. Die aktuell genutzte Arbeitsbemessungszahl, die eine Relation aus Stichtags- und Eingangsstatistik von BwH- und GH-Aufträgen herstellt, hat sich nicht bewährt.
  • Die Verwaltungsmitarbeiter/innen haben eine wichtige Funktion in den AJSD-Büros. Sie sind erste Ansprechpartner/innen für die Klientinnen und Klienten, oranisieren den Büroalltag und unterstützen die Kolleginnen und Kollegen in Verwaltungstätigkeiten. Dies sollte deutlicher herausgestellt werden, indem die Aufgaben konkret benannt werden oder auf eine Arbeitsplatzbeschreibung verwiesen wird.
  • Die Regelungen zur Gerichtshilfe sind ebenfalls unter Hinzuziehung der Kolleginnen und Kollegen zu überarbeiten. Aus unserer Sicht ist das Kapitel teilweise inhaltlich ungenügend und nicht praxistauglich.
  • Der Handlungsplan ist zu streichen. Es ergibt sich aus dem Arbeitsauftrag, wie verfahren werden muss. Die Erstellung eines expliziten Plans ist überflüssig.
  • Fristen sind nicht nur mit Blick auf eine aktuell nicht verlässliche Postzustellungspraxis, sondern auch wegen der individuellen Problemlagen der Klienten impraktikabel und müssen angepasst werden. Konkrete Handlungsanweisungen und Abläufe sollten entfallen. Sie liegen im Ermessen der/s fallverantwortlichen Gerichtshelferin/s.
  • Rückfragen sind von den Auftraggebern unerwünscht und entsprechen nicht der gängigen Praxis. Sie sollten als Vorgaben gestrichen werden. Die Auftragsbeendigung liegt im Ermessen der/s fallverantwortlichen Gerichtshelferin/s.
  • Der Absatz zur Gerichtshilfe auf Seite 14 unter Punkt 3.3 ist inhaltlich falsch und muss gestrichen werden.

Der vorliegende Entwurf der 5. Auflage der Qualitätsstandards ist nicht ausgereift und weist eine Vielzahl von Mängeln auf. Es ist neben der fehlenden Beteiligung alleine aufgrund der Fülle der Kritikpunkte unmöglich, durch einfaches Redigieren des Entwurfes zu praxistauglichen Regelungen zu gelangen.

Wir empfehlen daher dringend, einen neuen Qualitätsentwicklungsprozess zu beginnen, der den vorliegenden Entwurf der 5. Auflage sowie die Rückmeldungen bis zum 30.11.16 berücksichtigt. Darüber hinaus werden Kollegenschaft, Bezirksleitungen Fach-verbände und Personalvertretung sowie die bereits vorhandenen Fachgremien bzw. Ansprechpartner des AJSD zur Qualität, Gerichtshilfe, TOA, Jugendbewährungshilfe, Führungsaufsicht, Risikomanagement, Übergangsmanagement, Verwaltung, Supervision, SoDA, Ehrenamt, Gesundheit und Öffentlichkeitsarbeit am Prozess beteiligt.

Wir schlagen vor, dass die aktuellen Qualitätsstandards vorübergehend gültig bleiben, aber für den Bereich BwH/FA die Einstufung in Betreuungsgruppen sowie das Nutzen der Dittmannliste entfällt. Auch auf die verpflichtende Dokumentation in HiPs und KUPs bzw. weitere Dokumentationsvorgaben wird verzichtet.

Ein Ausprobieren der erneut unausgegorenen Standards, wie sie im Entwurf niedergelegt sind, lehnen wir ab. Dieses Vorgehen hat bei der Installation der 4. Auflage der Qualitätsstandards nicht funktioniert und zu großen Verwerfungen in der Kollegenschaft geführt. Ein richtiger Neuanfang unter ehrlicher Beteiligung der Praktiker/innen vor Ort ist dringend erforderlich, um ein erneutes Scheitern zu verhindern. Dazu bieten wir unsere Mitarbeit an.

Die Akzeptanz der Kollegenschaft und praxistaugliche Qualitätsstandards können nur durch Transparenz und ehrliche Beteiligung erreicht werden. Dazu fordern wir auch die Veröffentlichung aller Stellungnahmen, die zu den Qualitätsstandards der 5. Auflage abgegeben wurden.

Der VDS-Vorstand

Tanja Bauschke, Dirk Blume, Lena Bulla-Förstel, Sonja Clausen,

Nicole Hermes, Ute Sippel, Jens Wilke, Hartmut Weber